Nie mehr "Lasst mich man immer alleine"

Mein Papa ist vor drei Tagen gestorben! Ich weiß, es gibt Leute, die dann sagen: "Okay, er war über 80 Jahre. In dem Alter muss man damit rechnen." Ja, muss man irgendwie. Aber keiner sagt dir vorher, dass das Alter deines geliebten Papas scheißegal ist und dass es einfach tierisch weh tut, wenn er nicht mehr da ist. Keiner sagt dir vorher, dass du als fast 60jähriger gestandener Mann manchmal plötzlich unvermittelt losheulst wie ein Kind, weil irgendein Satz, irgendeine Geste, irgendeine Umgebung dich an ihn erinnert. Keiner sagt dir vorher was von dieser Leere, die du spürst, obwohl alle anderen außer dein Papa noch da sind.
Klar, man reißt sich dann zusammen, man muss funktionieren und tausend organisatorische Sachen klären. Das lenkt ab. Und natürlich hat man Freunde und vor allem eine Familie, mit der man reden kann. Und dann stellt man fest, dass das Drüber-Reden auch irgendwie eine Therapie ist. Aber die Leute, die ehrlich mit diesem Thema umgehen wie beispielsweise mein Kumpel Detlev, der leider auch vor einem Jahr seinen Vater verloren hat, die sagen dir dann: "Das wird bestimmt ein halbes Jahr dauern. Und Trost gibt es eigentlich nicht!"
Ich ahne bereits, was er meint. Diese Gedanken, bei denen man sich erwischt: "Mensch, ich könnte doch mal Papa besuchen. Ich könnte ihm dieses oder jenes erzählen." Um dann im nächsten Augenblick zu registrieren, dass das nicht mehr geht ... nie mehr.
Und man wird von ihm auch am Morgen eines Marathonlaufes keine SMS mehr bekommen, in der er einem alles Gute und Gottes Segen für den Lauf wünscht. Man wird ihn hinterher nach dem Zieleinlauf nicht mehr anrufen, weil man weiß, dass er sich als Vater natürlich Sorgen gemacht hatte. Man wird ihn nicht mehr zum Gottesdienst abholen, wo er dann immer schon saß, wenn wir unsere Bandprobe hatten, um die Lieder noch mal durchzuspielen. "Du kannst doch auch mit deinem Elektro-Scooter später nachkommen" habe ich im letzten Sommer zu ihm gesagt. Aber er meinte: "Nee, ich höre eure Lieder gerne. Ich fahre lieber mit dir mit." Und so saß er dann da und hörte uns bei der Probe zu. Er wird da jetzt nicht mehr sitzen ... nie mehr.
Oder wenn man ihn zu einer Feier oder einem Ausflug abgeholt hat und er dann immer schon mindestens eine halbe Stunde vorher (manche vermuten auch, es war noch länger) an der Straße gestanden hat, weil er nie unpünktlich war. Auch das wird nie mehr passieren.

Einer seiner Lieblingssprüche war "Lasst mich man immer alleine!". Den hat er gemacht, wenn man nach zwei oder drei Stunden bei ihm dann irgendwann mal los wollte oder musste. Seit er Witwer und allein war, hat er diese Besuche von uns geliebt und drauf gewartet. Und ich glaube, wir haben im Rahmen unserer Möglichkeiten sehr, sehr viele Besuche bei ihm gemacht. Meine Geschwister und ich. Und auch die Enkelkinder. Und seine Freunde. Das zeigt eigentlich schon ziemlich klar, dass er eben gerade nicht immer alleine war. Aber ein bisschen Selbstmitleid gehörte bei ihm halt auch immer dazu. Und natürlich auch die etwas andere Sichtweise eines alleinstehenden Witwers, der in seinem Haus darauf wartet, dass jemand vorbei kommt.
Wenn man ihn beschreiben müsste, fällt einem sofort seine ostpreußische Sturheit ein (die er uns vererbt hat). Und seine Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft. Und sein Wunsch nach Harmonie, bei dem er manchmal auch Konflikte oder Schwierigkeiten einfach ignoriert oder verdrängt hat.
Und natürlich sein Pflichtbewusstsein! Als ich vorgestern bei der Stiftung für seine Betriebsrente anrief, um Bescheid zu geben, dass er gestorben ist und die Rentenzahlungen eingestellt werden sollen, da sagte der Ex-Kollege meines Vaters, der diese Stiftung betreut: "Sie hätten da ruhig auch ein oder zwei Monate später anrufen können. Wir nehmen das nicht so genau." "Mein Vater hat mir gesagt, dass man sich sofort bei Ihnen melden muss!" antwortete ich. "Typisch Lothar" hat der Mann gesagt, "Pflichtbewusst wie immer!" Ja, das war er.


Mein Papa konnte bis auf die letzten Tage in seinem Haus wohnen, wo er sich wohl fühlte. Wir hatten schon manchmal angeregt, dass eine kleinere Wohnung vielleicht besser wäre. Aber auch da war er stur. Und letztlich hat er sich durchgesetzt.
Im Nachhinein sind uns einige Sätze von ihm aufgefallen, die darauf hindeuten, dass er schon seit einigen Wochen oder Monaten wusste, dass es zu Ende geht. Auch da, wo wir noch alle dachten, dass er für seine knapp 82 Jahre noch fit ist und dass unser Papa sowieso niemals stirbt. Beispielsweise, als er mir vor ein paar Wochen seine übliche Spende für "Brot für die Welt" mitgab, die er sonst immer am Heiligabend in die Kollekte geworfen hat. "Das ist so typisch Papa," habe ich irgendwann in den letzten Tagen gedacht. "Der wusste wahrscheinlich, was ihn erwartet, aber seine Spende, die musste noch raus ..."
Kann sein, dass der eine oder andere jetzt denkt, dass ich hier vor lauter Sentimentalität ein ziemlich verklärtes Bild meines Vaters zeichne. Aber da ich seine "Fischersche" Sturheit geerbt habe, die manchmal auch schon nervig werden kann, ist mir das egal. Die meisten Menschen, die ihn kannten, seine Nachbarn, seine Freunde, die Leute aus seiner Baptistengemeinde und seine Ex-Kollegen haben ihn sehr geschätzt und werden diese Lücke, die er hinterlässt, noch lange spüren.
Wir als Familie werden diese Lücke für immer spüren, bestimmt irgendwann nicht mehr so schmerzhaft wie jetzt. Aber wir werden unseren Papa nie vergessen.

Euch allen, die ihr meinen Blog besucht, wünsche ich trotzdem schöne und friedliche Weihnachten mit euren Lieben. Genießt die Zeit!
 

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