Den 28. November 1977 werde ich nie
vergessen!
Heute vor genau vierzig Jahren mühte
ich mich gerade im Werkunterricht mit irgendeiner Holzarbeit, für
die ich im günstigsten Fall eine drei, wahrscheinlich aber wieder
wegen fehlender Sorgfalt und mangels handwerklichen Geschicks eher
eine vier bekommen würde. Unser Werklehrer ließ sich eigentlich
relativ selten blicken und gönnte sich stattdessen lieber in seinem
„Arbeitszimmer“ ab und zu etwas Alkoholisches. Zumindest
vermuteten wir das.
An diesem Morgen kam er aber irgendwann
zu mir und sagte: „Da ist jemand für dich. Komm mal mit.“ Sofort
wusste ich, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste, denn
ansonsten hätten normale Dinge ja wohl Zeit gehabt bis zum
Schulschluss. Ich war mir zwar relativ sicher, dass kein Gespräch
mit der Schulleitung drohte, denn ich war ein eher unauffälliger
Schüler, der - von seltenen Ausnahmen abgesehen - keinen Mist baute.
Also musste es irgendwas privates sein. Und als ich dann den
damaligen Gemeindeleiter unserer kleinen Baptistengemeinde sah, der
meinen Bruder Dirk und mich abholte, da wusste ich, dass es etwas wirklich Schlimmes sein musste. Denn du wirst nicht wegen irgendeiner
Bagatelle aus der Schule geholt.
Onkel Heinrich, wie wir ihn damals
nannten, nahm meinen Bruder und mich mit zum Parkplatz und wartete
mit seiner Erklärung, bis wir in seinem Auto saßen. Dann sagte er
diesen Satz, der mir mein ganzes Leben lang in Erinnerung bleiben
wird:
„Eure Mutter ist heute heimgegangen!“
Diese Nachricht war einerseits ein
Schock und andererseits so lähmend unglaubhaft, dass sie wie eine
Falschmeldung oder ein blöder, geschmackloser Witz klang. Das konnte
nicht sein! Der Begriff „heimgegangen“ klingt für viele Leute
wahrscheinlich ungewöhnlich, aber in frommen Kreisen war das ein
anderes Wort für „gestorben“. Meine Mutter war tot! Wenige
Stunden zuvor hatte ich noch mit ihr gesprochen. Ihr ging es gut. Sie
war erst 37 Jahre alt. In diesem Alter stirbt man nicht ...
Wir haben hinterher erfahren, dass sie
an einer Lungenembolie gestorben ist. Ein Blutgerinsel hatte sich aus
einer Thrombose gelöst und war zur Lunge gewandert. Als sie merkte,
dass es ihr schlecht ging, war sie noch zu meinem Urgroßvater
gegangen, der damals im gleichen Haus wohnte wie wir. Aber er und
seine Lebensgefährtin waren mit der Situation völlig überfordert.
Nachdem meine Mutter vor ihren Augen zusammengebrochen war, sind sie
zu den Nachbarn gelaufen, die ein Telefon hatten (bei uns gab es
keins). Dann haben sie von dort ziemlich umständlich erstmal den
Hausarzt im Nachbardorf angerufen statt den Rettungswagen. Der
Hausarzt hat sich dann zwar wohl anschließend gleich um einen
Krankenwagen gekümmert, aber da war leider schon wertvolle Zeit
vergangen.
Ziemlich oft habe ich mich hinterher
gefragt, ob meine Mutter noch leben könnte, wenn der Notarzt früher
da gewesen wäre. Ich habe meinem Urgroßvater und seiner Freundin
das nie vorgeworfen, denn sie haben ja nicht absichtlich irgendwas
falsch gemacht. Sie waren einfach nur hilflos und mit der Situation
völlig überfordert. Aber die Frage war trotzdem da.
Genau wie die Frage, warum Gott meine
Mutter viel zu jung sterben lässt. Ich habe bis heute darauf keine
wirklich gute Antwort erhalten, obwohl ich mich selbst und auch ihn
das oft gefragt habe. Aber solche albernen Argumente wie „Es ging
doch dann hinterher ganz toll mit euch weiter ...“ fand ich schon
immer blöd.
Diese Frage ist heutzutage zwar nicht
mehr so fundamental wichtig. Sie beschäftigt mich nicht wirklich
jeden Tag und sie hat auch keine Auswirkungen auf meine Beziehung zu
Gott. Außer vielleicht, dass ich mir immer noch vorgenommen habe,
ihn im Himmel mal danach zu fragen, warum das so passieren musste.
Denn wenn ich ganz ehrlich bin, dann denke ich auch nach vierzig
Jahren noch ziemlich oft an meine Mama. Und ich frage mich manchmal,
wie es wohl sein würde, wenn sie die ganze Zeit seitdem noch erlebt
hätte:
Wenn sie gesehen hätte, was aus ihren
beiden Söhnen geworden ist.
Wenn sie ihre Schwiegertöchter und
Enkelkinder kennengelernt hätte.
Wenn sie ihren vierzigsten,
fünfzigsten, sechzigsten, siebzigsten und fünfundsiebzigsten
Geburtstag hätte erleben und feiern können.
Wenn wir mit ihr gemeinsam auf der
Terrasse unseres neuen Hauses sitzen und über Gott und die Welt
reden könnten.
Wenn man ihr von der Liebe, die sie uns
gegeben hat, etwas hätte zurückgeben können …
Okay, das ist jetzt alles irgendwie
ziemlich sentimental, was eigentlich nicht so meine Art ist. Und
diese „was wäre, wenn ...“ Überlegungen mag ich normalerweise
auch nicht. Aber in diesem Fall möchte ich mir diese Gedanken mal gerne erlauben und auch veröffentlichen, um meine Mama zu
ehren. Sie ist jetzt seit vierzig Jahren nicht mehr bei uns. Das Grab
ist mittlerweile sogar schon abgeräumt. Allerdings muss ich sowieso
zugeben, dass ich nicht sehr oft bei ihrem Grab war.
In meiner Vorstellung war sie nicht dort auf dem Friedhof, sondern ich glaube ganz
fest daran, dass sie seit dem 28.11.1977 bei Jesus im Himmel ist.
Deshalb hat mir dieses Grab auch nie besonders viel bedeutet. Die
Erinnerung an meine Mama war für mich nie mit dem Friedhof
verknüpft, sondern immer mit den Gedanken an sie selbst, an ihre
humorvolle, lebensfrohe, sehr liebende und fürsorgliche Art, die aber nie die nötige Konsequenz und Strenge vermissen ließ.
Ich glaube daran, dass sie jetzt im
Himmel wichtigeres, größeres und schöneres erlebt, als hier auf
die Erde zu gucken und sich Gedanken darüber zu machen, ob irgendwer
an sie denkt. Aber falls doch, dann soll sie wissen, dass sie uns auch nach vierzig Jahren immer noch fehlt und dass wir sie nie vergessen werden!
Gerda Fischer 1940-1977 |
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